Ein Licht und eine Offenbarung sind von Gott zu euch gekommen. Gott leitet damit diejenigen, die nach seinem Wohlgefallen streben, die Wege des Friedens und bringt sie aus der Finsternis heraus ins Licht und führt sie auf einen geraden Weg.
Islam, Koran Sure 5:15-16

Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.
Christentum, Evangelium nach Johannes 8:12

Literatur

Jahn, Sarah J.; Stander-Dulisch, Judith

Vielfalt der Religionen

Ein Praxishandbuch zur Regulierung von religiöser Pluralität in Nordrhein-Westfalen

Wochenschau Verlag, 2021, 352 S. 39,90 €
Bestell-Nr. 41152 (Print) / 41153 (PDF)

Rezension vom Januar 2021 von Vorstandsmitglied Doris Schulz

 

Im Interreligiösen Kalender des Landes NRW wird durch viele Farben mit unterschiedlichen Schattierungen die Vielfalt der Religionen und ihrer Konfessionen in unserem Bundesland deutlich! Allein im Ruhrgebiet haben die Herausgeberinnen des vorliegenden Buches insgesamt 228 unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Strömungen festgestellt. (S. 21)

Nicht nur Säkularisierung und Individualisierung nehmen zu, sondern die Vielfalt der Religionen wird größer und deutlich sichtbarer. Das Grundgesetz garantiert das Grundrecht auf Religionsfreiheit. Und mit staatlichen Gesetzen und Verträgen wird dieses Grundrecht bisher zwischen den Kirchen reguliert u.a. in den Bereichen von Wohlfahrt und Bildung. Andere Religionsgemeinschaften reklamieren die grundsätzliche Gleichbehandlung aller Religionen durch den Staat. Dies bedeutet in der sich verändernden Gesellschaft gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen für Politik und Gesellschaft im Spannungsfeld von Zusammenhalt, Konfliktfähigkeit und Akzeptanz der Vielfalt der Religionen mit ihren je eigenen Maßstäben. Das erfordert neue Regulierungen.

Das vorliegende Buch zielt direkt in diese gesellschaftliche Bedarfssituation für Regulierungen in den Bereichen „Religion in den Medien“, „Religion am Arbeitsplatz“, „Religion in Politik und Verwaltung“, „Religion im Bildungsbereich“, „Religion und Zivilgesellschaft“. Es enthält Forschungsergebnisse junger Wissenschaftler*innen, die Lebens- und Arbeitsbereiche aus der Praxis erforschten. Das Forschungskolleg Religiöse Pluralität und Ihre Regulierung in der Region (RePliR) an der Ruhr-Universität Bochum soll die „religiöse Pluralität und deren Regulierung erforschen, Auswirkungen und potenzielle Konflikthaftigkeit im Blick auf andere gesellschaftliche Bereiche analysieren und mögliche Lösungsansätze aufzeigen.“ Anliegen des RePliR war in Zusammenarbeit mit verschiedenen Praxiseinrichtungen, die Forschungsfragen zu entwickeln und „die Ergebnisse über die Praxis in die Praxis zu vermitteln, um Impulse für den Umgang mit religiöser Pluralität zu setzen.“

Die beiden Herausgeberinnen des Buches, Dr. Sarah J. Jahn und Dr. Judith Stander-Dulisch, leiteten nacheinander das Forschungskolleg RePliR in den Jahren 2016 bis 2020.

Beeindruckend gelang der Forschungsarbeit, strukturell einen stetigen, gezielt angelegten Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis anzuregen: Insgesamt arbeiteten vier Jahre lang 30 Professoren, Dozenten und Promovierende aus unterschiedlichen Fachzusammenhängen mit 15 Partnern aus Einrichtungen verschiedener gesellschaftlicher Bereiche miteinander.

Das Buch hat drei Teile. Im ersten kurzen Teil wird der Bedarf an Regulierung mit Möglichkeiten und Grenzen im Bundesland NRW dargestellt.

Der zweite Teil enthält fünf gesellschaftliche Bereiche mit insgesamt 15 Fallstudien, davon allein 11 Promotionsprojekte, die zum Mittelpunkt der Forschung werden. Diese greifen thematisch die religiöse Vielfalt auf, befragen sie auf Sichtbarkeit und vorherrschende Umgangsweisen in den Praxisbereichen. Die Perspektiven zahlreicher Praktiker und Praktikerinnen aus den Arbeitsgebieten verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen wurden zu diesen Fallstudien mit ihren Impulsen und Bewertungen eingeholt.

Jeder gesellschaftliche Bereich mit seinen Fallstudien ist nach dem gleichen Schema aufgebaut: Zuerst werden die staatlichen Gesetze und Zusammenhänge aufgezeigt, dann werden konkrete Fallbeispiele, mit ihren Problemlagen wissenschaftlich aus der jeweiligen Fachdisziplin des Autors*der Autorin beschrieben und analysiert, mit vertiefendem Orientierungswissen begründet. Die jede Fallstudie abschließenden Impulse und Lösungsansätze im Umgang mit religiöser Vielfalt sollen zur eigenen Reflexion mit Evaluation der eigenen Praxis anregen.

Zwei dieser Fallstudien möchte ich genauer darstellen: eine Fallstudie aus dem Bildungsbereich und eine aus dem Bereich der Zivilgesellschaft. Beide zeigen besonderen Regulierungsbedarf, aber auch dessen Grenzen.

1. Religion im Bildungsbereich

Dilek A. Tepeli, Martina Loth
Religiöse Pluralität im Klassenzimmer: Jugendliche Alevit*innen und Sunnit*innen.

Mit einer Einleitung wird ein kompakter und informativer Überblick der gesetzlichen Hintergründe in schulischer und außerschulischer Bildung und zum Bereich Religion vorangestellt. Sie zeigt deutlich die Komplexität der Zusammenhänge. Die Fallstudie „Religiöse Pluralität im Klassenzimmer“ zeigt den Zusammenhang zwischen Schule als Bildungseinrichtung mit Wissens- und Kompetenzvermittlung und Schule als Sozialraum mit Erfahrungen in intellektuellen, in emotionalen und in sozialen Bereichen mit ihren Prägungen für Einstellungen und Haltungen. In den Jahren der Pubertät und Adoleszenz bilden sich im Lebensraum Schule und ihren Beziehungsgefügen die jugendlichen Persönlichkeiten aus mit ihrer je eigenen Identität.

Erfolgreiches Fordern und Fördern der jungen Menschen ist auf das Wissen und die Kompetenzen der Pädagog*innen in Fachdidaktik und Fachmethodik angewiesen, ebenso aber auch auf psychologisches Wissen und Empathie für junge Menschen. Die beiden Autorinnen widmen sich in ihrer Fallstudie den Unterschieden zwischen muslimischen und christlichen Jugendlichen und der speziellen Binnendifferenz zwischen Sunnit*innen und Alevit*innen bei türkischstämmigen Jugendlichen in der dritten Generation in den multireligiösen Klassenzimmern. Die konfliktreichen Beziehungen zwischen diesen beiden letztgenannten Gruppen über Jahrhunderte in der Türkei sind mit Verletzungen und Diskriminierungen für die alevitische Minderheit durch die türkeistämmige Mehrheit in einem kulturellen Gedächtnis der Familien bewahrt und werden innerhalb der Unterrichtsgruppen bedeutsam.

Die zwei Autorinnen zeigen anhand von empirischen Fällen im Themenfeld „Persönliche Weltanschauung“ wie Einzelne, die diesen Gruppen angehören, ihr „Anderssein“ bezüglich ihrer religiösen Zugehörigkeit erleben und welche Konsequenzen sich hieraus für den Umgang mit religiöser Pluralität im Raum der Schule ergeben.“ Ausführlich werden die Fälle wissenschaftlich analysiert, reflektiert bezüglich der historisch- politischen Hintergründe über Jahrhunderte in der Türkei, der Schweigetradition bei den Aleviten bis heute in Deutschland (bei nur geringen Veränderungen) und den psychosozialen Folgen dieser kritischen Beziehungsverhältnisse in der Situation als Minderheit in der Minderheit gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Diese Fallbeispiele zeigen konkret, wie kompliziert die Prozesse der Persönlichkeitswerdung bei diesen Jugendlichen und späteren jungen Erwachsenen ablaufen, die nicht nur die allgemeinen Probleme des Erwachsenwerdens erleben, sondern mit den differenzierten Einflüssen der Migrationshintergründe der Eltern und Familien, der Klassenkameraden und der umgebenden Mehrheitsgesellschaft einhergehen. Im Fazit zeigen die Autorinnen deutlich, Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter*innen und Schulpsycholog*innen benötigen detailliertes Orientierungswissen bezüglich der verschiedenen Gruppen. Dies wird kompakt und sehr gut im vorliegenden Text dargestellt. Die Sensibilisierung für religiöse und kulturelle Pluralität gilt für jegliche Minderheiten. Die Kenntnis der Gruppen darf jedoch nicht den Blick auf die persönliche Identität eines Menschen – in ihrer Einzigartigkeit als Person – verstellen.

2. Religion und Zivilgesellschaft

David Rüschenschmidt

„Wege eines Zusammenlebens“ von Christen*innen und Muslim*innen in Marl. Die Christlich- Islamische Arbeitsgemeinschaft (CIAG)

Rüschenschmidts Fallstudie beschreibt und analysiert am Beispiel der Christlich-Islamischen Arbeitsgemeinschaft (CIAG) in Marl eine der frühesten Dialoginitiativen in den Jahren 1984 bis 2001. Deren Mitglieder vertreten die Überzeugung, dass der Glaube beider Religionen aufruft zu Frieden, Gerechtigkeit und guter Nachbarschaft mit allen Menschen. Sie haben den Wunsch nach einem gemeinsamen Leben von Christen und Muslimen mit Freundschaft und Achtung voreinander. Die Untersuchung gilt der Rolle dieses Christlich-Islamischen Dialogs in der Stadt Marl und den Herausforderungen im Zusammenhang mit religiöser Vielfalt vor Ort.

Die Probleme und Herausforderungen der Vielfalt der Religionen begannen überall in Deutschland, auch in Marl, als in den 70er Jahren die Gastarbeiter*innen ihre Familienangehörigen nach Deutschland holten und sie heimisch wurden. 1973 wurde die Anwerbung gestoppt. Anfang der 80er Jahre entstand eine Strukturkrise im Ruhrgebiet. Die Mitbürger*innen aus der Türkei und Nordafrika wurden von der einheimischen Bevölkerung mit ihrer Kultur und Religion als fremd erlebt und wurden i.d.R. abgelehnt.

Menschen aus Kirchen und Zivilgesellschaft nahmen diese Herausforderung an. Die Dialoginitiative zwischen Christen und Muslimen in der Stadt Marl entstand. Herausforderungen folgten, als die Zuwanderer für ihre religiösen Bedürfnisse einen Moscheebau beantragen. Rechtsextremismus, Brandanschläge, Schmierereien machten die Ausländerfeindlichkeit sichtbar. Der terroristische Anschlag 2001 in New York veränderte die allgemeine Stimmung in den USA, in Europa und auch in Marl. Weitere Zuwanderung aus Kriegsgebieten erreichte Europa, die Islamfeindlichkeit nahm zu. „Die ungefragten Ratschläge“, die die CIAG in dieser Zeit in Marl veröffentlichte, führte zu positiven Berichterstattungen in den Medien.

Rüschenschmidt beschreibt detailliert am „Mikrokosmos Marl“ die Widerstände aus der Zivilgesellschaft gegen die deutlicher werdende Ausländerfeindlichkeit mit Rechtsextremismus. Diese begannen mit den öffentlich werdenden Haltungen der Mitglieder in der CIAG und ihren Aktivtäten. Mit ihrer Ausstrahlung in die städtische Gesellschaft, bei offener Haltung der Stadt, wurden mit allen Beteiligten Kompromisse für den Moscheebau gefunden. Viele Aktivitäten wie gemeinsame Feste, Ausstellung, Grußworte, Diskussionen förderten positiv den Zusammenhalt zwischen Muslimen und Christen, die Muslime wurden „sichtbar“. Der Autor vergleicht in seinem Bericht die positive Entwicklung in Marl mit den Reaktionen auf Probleme der religiösen Pluralität in anderen Städten, diagnostiziert deren Verläufe.

Die Analysen von David Rüschenschmidt beruhen auf vielen Interviews mit aktiven Zeitzeugen, Studium von Dokumenten und Medien und seinen Kenntnissen aus der Geschichte des Christlich-Islamischen Dialogs. Er bezeichnet die in Marl praktizierten Umgangsweisen als „Regulierung“ mit den Aspekten „Förderung der Integration und einem produktiv- konstruktiven Umgang mit Differenzen.“

In seinem Fazit benennt er die wichtigsten Lösungsansätze, die zu einer Befriedung führen und stärkende Impulse geben können: Bildung eines Netzwerkes am Runden Tisch, das Kräfte verdichtet bündelt und persönlich vertrauensvolle Bekanntschaften öffentlich zeigt. Insgesamt warnt der Autor allerdings vor zu großen Erwartungen, weil es sich immer um komplexe, oft situationsbedingte Prozesse mit eingeschränkten Handlungsspielräumen und Spontanität der Beteiligten handelt. Nicht jeder Einsatz führt unmittelbar zu einem sichtbaren Ergebnis. Zumal wenn internationale terroristische Ereignisse geschehen und die Medien über längere Zeit dominieren. Positiv lässt sich festhalten, dass die von der CIAG 2001 veröffentlichten „Ratschläge“ von Bundes- und Landespolitik anerkannt und Dialoginitiativen insgesamt als förderungswürdig für wichtige Integrationsarbeit in den Kommunen unseres Landes beurteilt wurden. Das gute Wirken im lokalen Bereich, so fasst Rüschenschmidt zusammen, konnte die gesamtgesellschaftlichen Stereotype bezüglich des Islam nicht nachhaltig verhindern.“ Und er warnt, „es wäre riskant, die Dialoginitiativen mit integrations- und sicherheitspolitischen Erwartungen zu überfrachten oder an ihrem kaum quantifizierbaren „Output“ zu messen.“

Im dritten Teil des Buches gehen die Herausgeberinnen der Frage nach, inwieweit nicht nur der Staat die Religion reguliert, sondern ob auch die Vielfalt der Religionen den Staat beeinflusst. Zum Abschluss erfolgt zum einen ein systematisch strukturierter Vergleich für die gesellschaftlichen Bereiche und eine Liste der anwendungsorientierten Handlungsperspektiven aus den 15 Fallstudien für die Praxis. Im Anhang des Buches gibt es ein Verzeichnis der Autoren mit ihrem Hintergrund, eine gut kommentiertes Liste mit weiterführender Literatur - und ein Stichwortverzeichnis.

Das Handbuch für die Praxis sollte von vielen Praktiker*innen gelesen werden. Es ist auch möglich, nur einzelne Aufsätze zu lesen. Alle, die beruflich und ehrenamtlich in ihrer Arbeit der Vielfalt religiösen Lebens begegnen, können Vergewisserung durch die Forschung erhalten, aber auch Möglichkeiten zu Veränderungen erkennen und im besten Fall motiviert werden, diese in Handlungskonzepte im eigenen Wirkungsfeld umzusetzen. Dann könnte das Buch aus der Wissenschaft der Praxis zur Hilfe werden. Integration ist ein langer Prozess, dauert in einem Menschenleben viele Jahre und in Familien sicher auch über ein bis zwei Generationen. Dennoch gilt es immer wieder, die notwendigen Schritte zu tun, um im Zusammenwirken der verschiedenen Kräfte in allen Bereichen Bildung, Arbeitsfeldern, Medien, den Verwaltungen und in der Zivilgesellschaft für ein gutes gesellschaftliches Miteinander unterwegs zu sein.

Erscheinungsjahr: 2021

Stichworte: Vielfalt Diversity Interreligiöser Dialog