Wehe den Betenden, die während des Gebets unachtsam sind, die dabei nur gesehen werden wollen.
Islam, Koran Sure 107:4-6

Wenn ihr betet, dann tut es nicht wie die Scheinheiligen! Sie beten gern öffentlich in den Gotteshäusern und an den Straßenecken, damit sie von allen gesehen werden.
Christentum, Evangelium nach Matthäus 6:5

Literatur

Ulfat, Fatimah

Die Selbstrelationierung muslimischer Kinder als reflexiver Beitrag zur Didaktik des Islamischen Religionsunterrichts

Eine empirische Studie über die Gottesbeziehungen muslimischer Kinder

2017

338 Seiten

Schoeningh Verl.

ISBN 978-3-506-78613-5

erschienen in der Reihe: Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft, Band: 23

„Fahima Ulfats Untersuchung ist die erste empirische Studie zur Gottesbeziehung von muslimischen Kindern in Europa. Sie ist für das wissenschaftliche Verständnis der Entwicklung muslimischer Identitäten von grundlegender Bedeutung. Gleichzeitig besitzen die Erkenntnisse aus dieser Arbeit auch eine hohe Relevanz für die Weiterentwicklung eines modernen Islamischen Religionsunterrichts in einer demokratischen und ausdifferenzierten Gesellschaft. Es geht darum, junge Gläubige auf ein Leben in einer religiösen pluralen Gesellschaft vorzubereiten, in der die individuelle Gottesbeziehung und die Reflexivität der eigenen Religion eine entscheidende Voraussetzung zur Verhinderung von Radikalisierung und moralischer Rigidität darstellen.“

Soweit der Text des Verlages auf dem Buchrücken. Die Ausgangsfrage der Untersuchung ist: Welche Gottesbilder, Gottesvorstellungen oder gar Konzepte haben Kinder im Grundschulalter, die emotional und kognitiv ihr Handeln beeinflussen? Das leitende Interesse der Untersuchung dabei ist, die je eigene Religiosität der Kinder zu rekonstruieren, wie sie sich aus den verschiedenen, die Kinder prägenden Umwelten jeweils entwickelt hat. Wie sieht die subjektive Weltsicht der Kinder hinter abfragbarem dogmatischen Wissen oder rituellem Verhalten aus? Und liegt ihr eine emotionale Beziehung zu Gott zugrunde?
Systematisch wird in den drei ersten Kapiteln der Forschungsstand und seine Bedeutung bezüglich des Themas der Untersuchung beschrieben, die Forschungsfrage präzise eingegrenzt sowie die methodischen Entscheidungen begründet getroffen. Die Untersuchung wird in der qualitativen, dekonstruktiven Sozialforschung verortet. Ausführlichen Raum, etwa die Hälfte der gesamten Studie, nehmen im vierten Kapitel die Darstellung des Konzeptes für Inhalt und Durchführung sowie die Deutung der Interview-Ergebnisse ein. Die dabei methodisch verfolgte Strategie für die Interviews war, „keine religiösen Themen direkt anzusprechen“. Die dokumentierten „Narrationen“ der Kinder werden auf drei idealtypische Konstruktionen der Gottesbezüge verdichtet und deren Rekonstruktion ausführlich dargelegt. (S.261)


Als wichtigste Ergebnisse der Untersuchung ihrer ausgewählten Kindergruppe mit den gleichen Voraussetzungen (Alter, Teilnahme an islamischen Religionsunterricht und Moscheeunterricht, Herkunft aus verschiedenen Grundschulen) und deren Diskussion konnte die Autorin zeigen, das bei muslimischen Kindern bereits im Alter von ca. zehn Jahren im Rahmen ihrer subjektiven Aneignung der Tradition Gottesbezüge ausgesprochen heterogen sind. Es gibt die gesamte Bandbreite der Pluralität religiöser Haltungen. (S. 261)


Im fünften Kapitel diskutiert die Autorin ihre Ergebnisse mit der Islamischen Theologie - auch unter Einbeziehung theologischer Spannungsfelder - und mit ihrer Bedeutung für einen bekenntnisgebundenen Religionsunterricht sowie mit der Erziehungswissenschaft. „Die empirischen Ergebnisse zeigen“, so fasst die Autorin zusammen, „dass muslimische Religiosität mit einem autonomen, modernen Selbstverständnis Hand in Hand gehen kann. Eine solche Haltung lässt sich, wie ausführlich dargelegt, sowohl philosophisch als auch theologisch im Rückgriff auf die Quellen des Islam legitimieren. (S. 294) Sie ist sich aber auch bewusst, dass es keine Zwangsläufigkeit der Entwicklung hin zu einem „reifen“ Gottesbild in einem bestimmten Alter gibt, wenn sie feststellt: Bei allen Ähnlichkeiten, die es gibt, nimmt jedes Kind einen individuellen Weg im Umgang mit der Kontingenz.“
Daraus folgert sie, dass für junge Kinder und junge Menschen eine intensive pädagogische Begleitung umso wichtiger wird, um sie zu einem „Zuwachs an religiöser Autonomie und persönlicher Verantwortung“ zu führen und ihnen einem emotionalen Zugang zu ihrer Religion zu eröffnen. (S. 262)
Die gewonnenen Erkenntnisse werden im sechsten und letzten Kapitel weiterführend auf die Didaktik des Islamischen Religionsunterrichts bezogen und darin verankert. Die Ziele eines modernen Islamischen Religionsunterrichts gehen „von der Bildungsidee des Islam aus“, den Kindern und Jugendlichen als autonomen Menschen einen Zugang zu ihrer Religion, dem Islam, zur ermöglichen und damit für ihre Lebenswirklichkeit sinnstiftend zu werden. Zusammenfassend kommt die Autorin zu dem Schluss, dass die „Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit für die Weiterentwicklung eines modernen Islamischen Religionsunterrichts also von besonderer Bedeutung sind, da sie Hinweise darauf geben, wie junge Gläubige mit Blick auf ihren Gottesbezug auf ein Leben in einer religiös-pluralen Gesellschaft vorbereitet werden können“. (S.314)


Die Studie besticht durch Gründlichkeit, Systematik, Stringenz der Gedankenführung und der Kenntnis und Darstellung der umfangreichen relevanten wissenschaftlichen Grundlagen-Literatur.


Mit der Erfindung der motivierenden Erzählung für die Interviews, der Deutung der Ergebnisse hinsichtlich des sprachlichen und inhaltlichen Ausdrucks der Kinder, aus denen das Denken und die Beziehungen zu Gott sensibel erarbeitet werden, wird die Erfahrung und pädagogische Kompetenz der Autorin sichtbar.
Ein Ausblick zeigt die nächsten Forschungsvorhaben der Autorin. Eines der wichtigsten stellt die Autorin an die erste Stelle, und da stimme ich ihr unbedingt zu. Es geht um die Frage: „Welche Merkmale oder Ereignisse führen zu einer individuellen und mündigen Gottesbeziehung, die gleichermaßen an die säkulare Welt und die Tradition anschlussfähig ist?“ (S. 321)

Fahima Ulfat ist Grundschullehrerin, Religionspädagogin und Juniorprofessorin für Islamische Religionspädagogik am Zentrum für Islamische Theologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

Sie ist Mitglied der Christlich-Islamischen Gesellschaft e.V.

Rezensiert von Doris Schulz

Erscheinungsjahr: 2017

Stichworte: Religionspädagogik, Religionsunterricht, Gottesbilder